Die schwergewichtigste Neuerscheinung – was die Elo-Zahl betrifft – ist das Werk des russischen Großmeisters Nikita Vitiugov. Die erste Auflage von „The French Defence“ erschien im Jahre 2010 mit einem Umfang von 227 Seiten. Die kritischen Stimmen und/oder der kommerzielle Erfolg ließen Vitiugov bzw. seinen Verlag Chess Stars nicht ruhen. Anfang dieses Jahres erschien die zweite bearbeitete und erweiterte Auflage „The French Defence – Reloaded“
mit einem Umfang von 360 Seiten. In der ersten Auflage hatte Vitiugov einige Abspiele zu knapp behandelt, so z.B. den Königsindischen Angriff und Tschigorins 2.De2. Man merkt dem Buch auch in der verbesserten zweiten Auflage an, dass hier ein Top-GM und kein Schachtrainer schreibt. Vom Leser wird viel Schachwissen vorausgesetzt.
Gegen die Vorstoßvariante untersucht er die Fortsetzung 3…c5 4.c3 Db6 5.Sf3 Sc6. Als eine Spielweise gegen 3.Sd2/Sc3 offeriert er die Rubinsteinvariante 3… dxe4 4.Sxe4 Sd7, die mit gutem Erfolg vom deutschen GM Georg Meier gespielt wird, aber sicher nicht zu den spannendsten Abspielen der Französischen Verteidigung zu rechnen ist. Gegen die Tarrasch-Variante übernahm er die bereits erwähnten Repertoireempfehlungen von John Watson: 3…Le7 und 3…c5 nebst Zurückschlagen mit der Dame auf d5. Die Analyse der Winawer-Variante mit 4.e5 c5 5.a3 Bxc3+ 6.bxc3 Ne7 wurde um die Variante 6…Sc6 ergänzt. Auf 7.Dg4 spielt Schwarz einfach g6.
Vitiugov zitiert die in SCHACH 2/2011 abgedruckte Partie Volokitin- Ponomarjow, San Sebastian 2012.
Neu in das Buch aufgenommen wurde die McCutcheon-Variante.
Vor 30 Jahren wäre es noch nicht denkbar gewesen, dass ein aufstrebender Großmeister, der zur erweiterten Weltspitze gehört, ein Eröffnungsbuch verfasst. Zu dieser Zeit war bereits das Zusammenstellen des verfügbaren Partienmaterials eine verdienstvolle Aufgabe. Da jeder Leser heutzutage die Stellungsbewertungen eines Autors mit seinen Engines überprüfen kann, können die Autoren es sich nicht mehr leisten, falsche Fährten zu legen.
Man muss davon ausgehen, dass Vitiugov ein Repertoire zusammengestellt hat, welches er selbst nicht mehr verwenden wird. Zur Steinitz-Variante schreibt er: „Attentive readers might have noticed that recently the author of this book has been regularly playing 7…Be7. I should like to leave extensive analysis of this variation for a future book of mine…“.
Gegen die Steinitz-Variante versucht Vitiugov ein Figurenopfer zu rechtfertigen, welches meiner Erinnerung nach durch die Partie Timman- Kortschnoi, Brüssel 1987 widerlegt worden war.
1.e4 e6 2.d4 d5 3.Sc3 Sf6 4.e5 Sfd7 5.f4 c5 6.Sf3 Sc6 7.Le3 Db6 8.Sa4 Da5+ 9.c3 cxd4 10.b4 Sxb4 11.cxb4 Lxb4+ 12.Ld2 Lxd2+ 13.Sxd2
13…0–0
In der erwähnten Timman-Partie folgte: 13…b6 14.Ld3 La6 15.Sb2! Lxd3?! [15…Sc5 16.Lxa6 Dxa6 17.De2! (17.Sb3 Da3 18.Sxc5 bxc5 19.Da4+) 17…Da3 (17…d3 18.De3! Da3 19.Dd4±) 18.Db5+ Ke7 19.0–0, Timman] 16.Sxd3 Sc5 17.Sf2 Sa4 18.0–0 Sc3 19.Dg4 0–0 20.Sf3
und Weiß gewann im Königsangriff.
Zurück zu Vitiugovs Hauptvariante: 14.Ld3 b5 15.Sb2 Sb6 16.0–0 Sc4 17.Sbxc4 dxc4
Häufiger wurde 17.bxc4 gespielt.
18.Lxh7+
Kxh7 19.Dh5+ Kg8
Jacob Aagaard, dänischer GM und Miteigentümer des derzeit führenden Schachverlags Quality Chess hat sich in einem Blogeintrag mit dem schönen Titel „The difficulties of writing a chess book“ mit dieser Stellung befasst. Vitiugov analysierte nur 20.Sf3, ohne die von Aagaard gezeigte Widerlegung der schwarzen Spielweise zu beachten:
20.Se4 Td8 21. Sg5
Nach 21. Rf3 d3 22. Rh3 Kf8 23. Qg5 Qb6+ 24. Kh1 Ke8 25. Qxg7 Qd4 hielt sich Schwarz in Bulatov – Yuzhakov, Kurgan 2010,
21… Dc7 22. f5 exf5 23. Dh7+ Kf8 24. Dh8+ Ke7 25. Dxg7
und Weiß steht auf Gewinn.
Dieses Beispiel kann dem Leser jedes Eröffnungsbuchs als Warnung dienen. Auch Weltklassespieler können irren.
Aagaard hat bekannt gegeben, dass er die Zusammenarbeit mit Nikolaos Ntirlis fortsetzen wird. Ihr Repertoirebuch zu Französisch in der Reihe „Grandmaster repertoire“ wird vermutlich aber erst im nächsten Jahr erscheinen.