Wie sollte man in Mannschaftskämpfen spielen?

Dirk Paulsen hat den Spielbericht von Martina Skogvall zum Sieg der zweiten Mannschaft der Schachfreunde Berlin gegen Weisse Dame kommentiert. Dabei geht er auf meine Partie gegen Franko Mahn ein. Zur Schlussphase der Partie schreibt er:

Um ehrlich zu sein erinnert mich diese Art der „Gewinnführung“ des Dr. Wintzer an eine uralte Partie von Aaron Nimzowitsch, aus Karlsbad 1929, als Nimzowitsch – später Turniersieger vor Casablanca [gemeint ist sicher Capablanca], mit diesem halben Punkt – gegen Paul Johner eine totremise Stellung, ohne jegliche Perspektive, zig Züge weiter spielte, bis Johner, einfach so, ohne jegliche Motivation, anfing, eine Figur nach der anderen einzustellen, um Nimzowitsch damit die Sinnlosigkeit seiner Fortsetzung auf bösartige, aber verderbliche Art, vorzuführen gedachte. Sicher, Punkt ist Punkt.

Wer kennt nicht diese berühmte Nimzowitsch-Anekdote?

Nun, ich kannte sie nicht.

Und ich habe von und über Nimzowitsch das eine oder andere Buch gelesen, darunter das Turnierbuch zum Karlsbader Turnier 1929.

Die von Dirk Paulsen erwähnte Partie verlief folgendermaßen:

 

Diese Partie konnte offensichtlich nicht gemeint sein.

Stellung nach 29…Te1

Nach dieser Klärung fiel mir eine andere Begegnung zwischen John [sic!] und Nimzowitsch ein. Diese hat eine sehr entfernte Ähnlichkeit mit Paulsens Geschichte. Im Vorspann zu Nimzowitschs „Mein System“ findet sich eine Lebensbeschreibung des Autors aus der Feder von Jacques Hannak. Unter der Überschrift „Selbstschädigung“ finden sich einige Beispiele für Nimzowitschs mitunter seltsames Verhalten:

Zu einem ebenso dramatischen wie tragikomischen Zwischenfall kam es in Hamburg 1910 am Tage der Turnierpartie, die Nimzowitsch mit John zu spielen hatte. Walter John war seines Zeichens Apotheker in einer Provinzstadt und schon Goethe lächelt in „Hermann und Dorothea“ über den „würdigen Apotheker“, also den Typus wohlmeinender Korrektheit und Ordnung. Gerade diese Art aber lehnte die anarchistische Lebensauffassung eines Nimzowitsch ingrimmig ab. Als Schachspieler nur zweiten Ranges, tat sich der sonst recht freundliche und liebenswürdige John um so mehr zugute auf seine staatsbürgerliche Woh1bestalltheit und den Ehrenkodex seiner Studentenjahre. Was er für Nimzowitsch war, das war umgekehrt Nimzowitsch für ihn: ein Greuel.

Über das weitere erfahren wir aus Eduard Laskers Buch „Chess Secrets“ (Seite 104 f.): „Als Nimzowitsch gegen John anzutreten hatte, kam er um 45 Minuten zu spät in den Turniersaal. John, der seinen ersten Zug gemacht hatte, ging im Raum nervös hin und her, sich vielleicht in der Hoffnung wiegend, daß Nimzowitsch am Ende gar eine Stunde auf sich warten lassen werde. In diesem Falle hätte John die Partie kampflos gewonnen. Als aber Nimzowitsch schließlich doch erschien fünfzehn Minuten vor der Kontumazierungsfrist – ließ er durchaus nicht den Eindruck entstehen, daß er sich nun irgendwie zu beeilen habe. Anstatt sich zum Brett zu setzen, tat er wieder so, als ob er […] ein brennendes Interesse für die Ölmalereien an der Wand empfinde.
Er schritt von einem Bild zum anderen und prüfte jedes sorgfältig, obwohl er schon zwei Wochen lang täglich auf sie geblickt hatte. John merkte alsbald, daß Nimzowitsch irgendwas im Schilde führe und wurde rot vor Zorn über die verachtungsvolle Nonchalance, mit der Nimzowitsch Spiel und Gegner behandelte. Endlich kam Nimzowitsch zum Brett, machte seinen Zug, ohne sich niederzusetzen, und ging sofort wieder fort, um sich weiterhin in das Studium der Gemälde zu vertiefen. Dies wiederholte sich bis zum 16. Zug, und Nimzowitsch verbrauchte ostentativ dafür nicht mehr als fünf Minuten. Im 17. Zug bot er ein feines Bauernopfer an

und gewann neun Züge später die Qualität.

John hätte ruhig aufgeben können. Aber er war so wütend, daß er justament 82 Züge

lang weiterspielte, bevor er endlich kapitulierte. Am nächsten Morgen schickte er zu Nimzowitsch zwei Sekundanten, die eine Duellforderung überbrachten. Nimzowitsch lachte die zwei Herren nur aus und erklärte ihnen, er sei zu einem Duell bereit, aber bloß einem mit den Fäusten. Er wies auf seine Muskeln und riet den Herren, John zu warnen. Damit war die Duellgeschichte in Lächerlichkeit erstickt.

Vgl. Aaron Nimzowitsch: Mein System. Ein Lehrbuch des Schachspiels auf ganz neuartiger Grundlage, zweite verbesserte Auflage, Hamburg  1965, S. 13f.

Um mit Radio Eriwan zu sprechen: Ist der historische Bezug von Dirk Paulsen zutreffend?

Im Prinzip ja, aber …

  1. Nimzowitsch spielte gegen John, nicht gegen Johner.
  2. Die Partie wurde nicht in Karlsbad gespielt, sondern in Hamburg.
  3. Es ging nicht um das Endspiel, sondern das Verhalten jenseits des Bretts in der Eröffnung.
  4. Es war John, der eine verlorene Stellung lange weiterspielte, nicht Nimzowitsch eine „totremise“.

Oder es war alles ganz anders: Dirk Paulsen hat Nimzowitsch mit Tarrasch oder einem anderen Schachspieler verwechselt und erinnerte sich an eine weitere, mir nicht geläufige Begebenheit.

Mit dem Vergleich wollte Dirk Paulsen sein offensichtliches Missfallen ausdrücken, dass ich der Zugpflicht in einem Mannschaftskampf genügte. Das ist sehr ungewöhnlich. Mein Gegner bot mir während der Partie zu keinem Zeitpunkt die Punkteteilung an.

Prüfen wir zunächst seine Behauptung, die Stellung sei – wie bei der fiktiven Nimzowitsch-Partie – „totremis“ gewesen:

Völlig unmotiviert erscheint mir Franks Zug 102. (!!!) Kf2-e3,

weil er bis dahin doch nur dafür Sorge zu tragen hätte, dass er auf jeden Bauernvorzug des Schwarzen jeweils direkt die Blockadestellung davor aufbaut, also auf den Zug g4-g3 mit König nach h3 reagieren kann und auf den Zug h4-h3 mit König nach g3. So wie er spielte — König nach e3 — konnte Schwarz zunächst die Bauern bis auf die zweite und dritte Reihe vorschieben und dann im geeigneten Moment mit dem König einmarschieren.

Falls jemand Dirk Paulsen eine Wette anbieten sollte, mit welchem Ergebnis ein Ausspielen dieser Stellung in einem Wettkampf zwischen Komodo und Stockfish enden würde, würde ich ihm von dem Tipp „remis“ selbst bei einer Quote von 1 zu 100  freundschaftlich abraten. Matt in 16 Zügen – da könnte er einsteigen. Siehe die Variante:

Nun zeigt dieser Irrtum selbstverständlich nicht, dass die Partie nicht vorher haltbar gewesen wäre. Er zeigt indessen, dass selbst ein Dirk Paulsen die Partie hätte verlieren können, wenn er auf sein eigenes Urteil vertraut und den von ihm auch in der Analyse nicht als solchen erkannten Verlustzug gespielt hätte. So etwas kann immer geschehen, wenn man die korrekte Bewertung eines Endspiels nicht rekapitulieren kann, oder weil man sich verrechnet.

Ich war mir während der Partie sicher, dass das Endspiel nach dem Königsmarsch nach g3 gewonnen war. Aber nach acht Stunden Spiel mit nur noch einer Minute auf der Uhr alle Varianten sauber zu berechnen, das ist für beide Seiten nicht einfach. Daher hatte ich mich während der Partie schon darauf eingestellt, erst den Damenflügel aufzulösen, um Weiß das Reservetempo a2-a3 zu nehmen. Zugzwang konnte ja eine Rolle spielen. Auf diese Weise hätte ich zudem weitere Bedenkzeit hinzugewonnen. Als ich durch Hin- und Herziehen zwei Minuten angesammelt hatte, um das Endspiel zu berechnen, fiel mir auf, dass es mit dem Bauern auf g3 und h2 einfach gewonnen war. So gab ich meinem Gegner erneut die Gelegenheit, seinen König nach e3 zu ziehen, was er schon einmal im 98. Zug getan hatte. Hätte er dies vermieden, hätte ich einige Wartezüge gemacht, um genügend Zeit zu haben, das Bauernrennen zu berechnen. Nicht einmal, sondern sicherheitshalber dreimal!

Wenn selbst ein starker Spieler wie Dirk Paulsen in diesem simplen, angeblich „totremisen“ Endspiel zu völlig falschen Schlussfolgerungen kommen kann, dann ist seine Ausgangsbehauptung natürlich unhaltbar. Die Stellung war haltbar, aber nicht „totremis“. Als „totremis“ würde ich eine Stellung bezeichnen, die ich ohne Nachdenken gegen Magnus Carlsen halten würde. Ich habe das Läufer-Springer-Endspiel für objektiv haltbar eingeschätzt, mir aber dennoch Chancen ausgerechnet. Während der Partie berechnete ich mehrfach Varianten, die zu einer Veränderung der Bauernstruktur geführt hätten. Da diese in meinen kurzen Variantenberechnungen nicht gewinnbringend waren, lavierte ich weiter.

Wenn es der Mannschaftskampf erfordert hätte, wäre ich auch das Risiko einer persönlichen Niederlage eingegangen, um den Verlust des Mannschaftskampfs abzuwenden. Dabei geht es nicht darum, den Gegner „über die Zeit zu heben“, was mit der Bedenkzeitregelung in der Oberliga (Inkrement von 30 Sekunden pro Zug) sowieso nicht möglich wäre. Sondern es geht darum, Probleme zu stellen.

Auf der Homepage von „Weiße Dame“ findet sich ein Bericht aus der Perspektive des Gastgebers. Der Kapitän der Mannschaft, Kai Gerrit Venske, fasst die Schlussphase folgendermaßen zusammen:

So war es Franko an Brett 4 gegen FM Joachim Wintzer überlassen, in Seeschlange Nr. 2 zumindest das Remis zur schlussendlich (mindestens) verdient gewesenen Punkteteilung zu erzielen. Dieses hätte er per Zugwiederholung kurz vor meinem eingangs erwähnten Sieg schon einmal haben können, unterließ dies aber aufgrund der bis dahin unklaren Kräfteverhältnisse. Im Endspiel blieb ihm nun bei beiderseits weitgehend aufgebrauchter Zeit nichts weiter übrig, als bei gegenseitig ziemlich verschachtelten Bauernketten und einem gegnerischen Springer mit seinem Läufer alles dichtzuhalten, bis sein Gegner schließlich in den Tausch der Leichtfiguren einwilligte, weil er anders nicht mehr vorankam. Dann noch ein präziser Königszug mit Verbleib in der Brettmitte, und das Remis wäre wohl unausweichlich gewesen- aber nach 8 Stunden übersah Franko das Zwischenopfer eines gegnerischen Bauern, das zum Einbruch des Königs führte und zu einem faszinierenden Endspiel, das sein Gegner mit großer Ruhe und Übersicht zum Sieg führte. Wie glücklich unsere Gegner den Ausgang des Kampfes bewertet haben, kann der begierige Leser gerne in dem angenehm objektiven Bericht von Martina Skogvall auf des Gegners Homepage nachverfolgen, der insbesondere die Dramatik der beiden letzten Partien gut wiedergibt.

Mein Respekt für den sportlich fairen Gegner.

Als langjähriger Schachfreund habe ich eine andere Auffassung als Dirk Paulsen, was Mannschaftskämpfe angeht. Die Stärke der Schachfreunde – insbesondere in der ersten Bundesliga – beruht darauf, dass sie sich als Mannschaft präsentieren. Wenn der Mannschaftskampf an einigen Brettern schlecht steht, erhöhen die anderen Spieler das Risiko an ihren Brettern. Ein leicht besseres Endspiel an einem Brett mit Elovorteil einfach remis zu geben, wäre meines Erachtens gegenüber den Mannschaftskameraden unsportlich. Diese müssten dann unter schlechteren Bedingungen die Last tragen, einen möglichen Rückstand auszugleichen.

Während der Partie nahm ich an, dass mein Gegner irgendwann einmal eine dreimalige Stellungswiederholung hätte reklamieren können. Man hätte mir nach der Partie vorwerfen können, dass ich darauf nicht geachtet habe. Dafür fehlte mir aber die Bedenkzeit. Solange das zweite Brett nicht remisiert hatte, mochte mein Remis unsere Niederlage besiegeln. Wenn ich Dirk Paulsen richtig verstehe, hätte er an meiner Stelle remis angeboten. Ihm wäre es egal gewesen, ob der Mannschaftskampf dadurch verloren gegangen wäre. Hauptsache, er hätte sein Selbstbild eines fairen und untadeligen Sportsmanns gewahrt.

Das will ich ihm nicht nehmen:

Statt einer Duellforderung schildere ich nur meine Perspektive.